<p>Vor 15 Jahren verschlug es mir die Sprache, als ich über ein anderes Werk, Schuberts Streichquartett in d-Moll „Der Tod und das Mädchen“, schreiben wollte. Ich fühlte mich sehr verstanden von Schubert. Ich quälte mich wochenlang. Beschreibende Worte kamen mir immer weniger in den Sinn. Als die Deadline nahe war und ich keinen Satz herausgebracht hatte, fing ich an, über mein Leben zu erzählen. </p><p> Seit drei Monaten versuche ich, über die neue mose-Platte zu schreiben. Die Begriffe verlieren sich d-mollesk, je näher ich dem Veröffentlichungstermin komme. Herkömmliche Attribute werden bei näherer Betrachtung auch hier, wie damals, unglaubwürdig. Vor 15 Jahren schrieb ich über meinen Vater und seinen Tod. Zwischen den Zeilen sehnte ich mich mehr nach diesem als nach jenem. Mittlerweile hat Schubert als Spiegel dafür, wie ich das Dasein begreife, zum Glück seit Jahren ausgedient. </p><p> Beim Hören von „puls“ kommt mir vor, mose sind es nun, die meine innere Sprache sprechen, die alte dunkle wie die neue lichtere. Sie besteht vor allem aus amphibolischen Eindrücken, flüchtig und beständig, ausgesprochen in Schwermut, von der Leichtes ausgeht, … … im Juni in Wien. Am Gürtel, im Stau. Die Obdachlosen, in kleinen Gruppen, nippen am Bier, und sie gähnen. Phantastisch junge Menschen schreiten pomadig und in engen Hosen über Zebrastreifen. Erinnerungen kommen herunter von der nicht mehr so grauen Vorstadt. Die Szene ist, wie oft, wenn mose läuft, schon ein Film. Aber noch fremd. Die Phantastischen tragen augenscheinlich Lackhosen. Breit ist die Spur der jungen Männer, schmal die der jungen Frauen. Ihr glänzendes Haar, ihr Geschmeide um die Glieder, die Schühchen aus dem Internet, die synthetischen Körperteile, eindeutig und zur Schau gestellt. </p><p> Aber mose läuft. Nur die starken Geräusche von draußen nehme ich noch wahr. Selbst die werden bald milde. Die Welt ist zelluloid-gesättigt. Eine Trompete mit Dämpfer spielt. Mit langem Hall eine Gitarre. Ein Rufen im alten Hafen. Weite ist fast überall. Wien ist fern. Und dauert an. Der Frieden einer so anders als schubertschen Umarmung.</p><p> Vollendete Fragmente werden einem da geschenkt, Anfänge, Verführungen. Fundstücke aus den Zwischentönen der fünf Herren Thomas Kuschny, Herbert Walser-Breuß, Karl Müllner, Thomas Keckeis und Markus Marte. Rare Stücke, mit Bedacht arrangiert, entspannt, unverdorben melodisch, reduziert in einem Maß, das die geölten Lackhosen, die Rücklichtkolonnen, die staubige Sehnsucht nach den Zeiten in der frühen Heimat, diese stinkende, phantastisch alte Stadt ehrt und veredelt. In einer Bescheidenheit, der man jeden Ton und alles dahinter abnimmt und Danke sagen will: für die Stunde im Stau, im abnehmenden Junilicht, und für vieles, was diese Musik mir erzählt, langsam und sacht wie, in Wahrheit, Wien. </p> <p>Philip Scheiner<br> Philip Scheiner wurde in Wien geboren, wo er auch lebt. Er ist Moderator, Feature-Autor, Hörspiel-Regisseur und Redakteur bei Ö1. </p>